Außer der Erzähltechnik sind aber auch andere Aspekte der Story bemerkenswert.
Serena hat im Wesentlichen zwei Geliebte. Tony Canning, ein Ex-Agent des Britischen Geheimdienstes, lässt sie nach einer furiosen Szene auf einem Parkplatz der Autobahn einfach stehen und verschwindet aus ihrem Leben. Er stirbt jedoch bald an Krebs, und Serena erhält erst ein paar Jahre später einen Umschlag mit einem Brief von ihm, in der er ihr über seinen Tod hinaus die Umstände und auch seine Liebe erklärt. Tom Haley hinterlässt ihr ebenfalls einen Brief, nachdem er verschwunden ist (jenes letzte Kapitel eben), in dem es auch um Umstände und Liebe geht. Mit Tony kann sie nun abschließen, mit Haleys Brief scheint ihr Leben erst richtig zu beginnen. Das Buch hat wirklich ein Happy End, das aber dadurch als Happy End, also als trivialer Schluss aufgehoben wird, dass von diesem Happy End mit keinem Wort gesprochen wird. Es ist sozusagen in der Erzählstruktur verborgen. Der Leser nimmt es achselzuckend zur Kenntnis, ohne in irgendeiner Weise überwältigt zu werden.
Zum Weiteren ist bemerkenswert, wie das Thema der literarischen Phantasie eingebracht wird. Tom bittet Serena eines Tages, ihm etwas aus ihrer Welt der Mathematik (sie hat Mathe in Cambridge studiert) zu erzählen, etwas Contra-Intuitives, etwas Paradoxes. Und sie erzählt ihm von einer Gameshow mit einem gewissen Monty Hall, in der Monty dem Kandidaten drei Kisten präsentiert, zwei sollen leer sein, in der dritten befindet sich etwas Kostbares. Der Kandidat entscheidet sich für Kiste A. Nun öffnet Monty, der weiß, wo der Schatz ist, Kiste C. Sollte sich der Kandidat nun bei seiner finalen Wahl für Kiste B entscheiden oder bei seiner ursprünglichen Wahl bleiben? Die richtige Wahl gemäß den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit wäre die Kiste B. Denn nachdem die Kiste C geöffnet ist, stehen die Chancen 2:1, dass sich der Gegenstand in Kiste B befindet. Tom, der das zunächst überhaupt nicht begreift, macht daraus jedoch eine Kurzgeschichte über einen Mann, der seiner Frau nachsteigt, die ihn offenbar betrügt. Er sieht sie in einem Hotel verschwinden, schleicht ihr nach bis zum obersten Stockwerk, wo sich drei Zimmer befinden: 401, 402, 403. Er hat nicht gesehen, in welches Zimmer sie mit ihrem Liebhaber verschwunden ist, und hinter den Türen ist alles still. Er entschließt sich, die Tür 401 einzutreten. Just in diesem Augenblick kommt jedoch jemand aus Zimmer 403, worauf er sich gegen die Tür 402 wirft und seine Frau mit ihrem Liebhaber überrascht. Doch Serena erkennt, dass Tom das Paradox nicht verstanden hat. Denn die Situation im Hotel ist eine ganz andere, da ja das Öffnen von Zimmer 403 kein in dieser Situation geplanter Akt war. Aber für Serena ist das nicht so wichtig. Sie ist in Tom verliebt und abends im Bett in ihrem kleinen Zimmer in London macht sie sich nun ein paar Gedanken darüber, wie Schriftsteller eigentlich arbeiten oder funktionieren. Wahrscheinlichkeitsberechnungen sind nur unwesentliche technische Details. Hier der Originaltext, Seite 214:
Finally, the calculations of probability were mere technical details. The strength of the story was elsewhere. As I lay in the dark, waiting for sleep, I thought I was beginning to grasp something about invention. As a reader, a speed-reader, I took it for granted it was a process I never troubled myself with. You pulled a book from the shelf and there was an invented, peopled world, as obvious as the one you lived in. But now, like Tom in the restaurant grappling with Monty Hall, I thought I had the measure of the artifice, or I almost had it. Almost like cooking, I thought sleepily. Instead of transforming the ingredients, there's pure invention, the spark, the hidden element. What resulted was more than the sum of the parts.
Verwandlung von Speisezutaten macht also das Wesen der narrativen Phantasie aus. Schöner kann man Serena, diese Schnell-Leserin, nicht verspotten. Oder ist das gar kein Spott? Funktioniert Phantasie nicht wirklich genau so? Jedenfalls wird deutlich, dass Tom Haley als Erzähler hergehalten hat. Serena hätte so etwas selber niemals so treffend, ja treffend beschreiben können...
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