Neu gemischt

Budapester Sonette
von Dieter Uesseler


Form itself is something like a province. It is something subdued (not by princes but by principles, conventions, agreements - the way provinces usually are; where there is a necessity to observe and respect limitations and a struggle at times to make these disappear. It is something that is very narrow but often too vast to be filled with life and contents, something seemingly timeless but suffering crises and changes (generally supposed to be for the worse), evoking and blocking great ideas, imitative and self-restricted.

Péter Litván

 

© Dieter Uesseler - Budapest


Kreuz König


Moskauplatz, Südbahnhof: die Linie

59, gelbe Straßenbahn

Königspaß-Platz, ein balkanisches Kyrie

brandet von Osten an die schlingerndeTram

Mein Körper pendelt, hängt am Haltegriff

Ich lese ferne Sonette, der Fahrscheinentwerter

Stanzt Löcher ins Straßenbild, ein Rattenpfiff

Schreckt Mülleimeröffner und Resteverwerter

Karpaten, Europas hartgelederte Flanke

Von Irlands Nordwest gegerbt: Im Eichenfaß

Schmuggelt man seltene Bücher euch über den Paß

Drin blättert der König mit waffengewohnter Pranke

Die Stirn gefurcht, von Antithesen durchzogen

Schaumgekrönt von Reflexen atlantischer Wogen

Heraldisches Rätsel: der Rabe, im Ärmel ein As


Herz zwei

Vertäute Spannung, gelöst der Knoten, das Seil

Entläßt den Bügel, gelagert auf federnden Scheren

Lichtblitz beim ersten Kontakt mit dem Draht, ein Keil

Bläuliches Weiß, ein Aquamarin ohne Schlieren

Den Knoten lösen. Und schon fließt der Strom

Nur Technik. Man sollte den Überkopfschreiber

Erfinden. Textwiderstand 200 Ohm

Den Fluß des Genies mit dem Sonett-Treiber

Verbinden. Im Mund den Scherenstromabnehmer

Elastisch geführt am Draht der Poesie

Die Hände gefaltet, in den Schienen die Knie

Gleitend, funkensprühend, ein unbequemer

Autor als Schlitten, den der Text mit ihm fährt

Leben und Nebel palindromisch verkehrt



Herz Drei

Der Fahrer in seiner Kanzel aus Glas traktiert

Den Sollwertgeber mit zuckendem Rücken

Impulsverströmend - ein Muß aus freien Stücken

Weil ohne Impuls die Tram an Fahrt verliert

Und umgepolt: Der Fahrer hängt am Draht

Es ist die Straßenbahn, die experimentiert

An den zappelnden Arm Elektroden montiert

Eine poetisch-psychogalvanische Forschertat

Im Kopf des Fahrers erblühen Muster und cluster

Spiralen, Schlangen, Zielscheiben, Liebespfeile

Auch Sterne, vom Ideen-Himmel heruntergeholt

Themen-Chrysanthemen, die kleine Aster

Der Dichter ist von Lüge auf Einfall gepolt

Damit ihm die Welt den Stromschlag erteile


Pik Vier

Voll mit altem Brot, nein, mit vergilbten Akten

Auf offener Ladefläche: ein LKW

Hält gleiches Tempo, bleibt uns parallel

Die Federn knirschen unter der Last der Fakten

Und Steine, die sie am Flüggewerden hindern

Römisch Drei, dann Schrägstrich, Arabisch Drei

Das Aktenzeichen. Ein grauer Papagei

Erfand die Schaukel, der Reißwolf sagt’s den Kindern

Wie aus dem Kopf des Fahrers präpariert

Erscheint, auf die Planke des Lasters projiziert

Die rote Spirale auf gelbem Grund, nach links

Verlaufend, gerade endend als spitzer Pfeil

Darunter ein Name. Bekannt. Woher nur? Der Dings...

Volán, der Meister. Er spricht: Margarita, es sei



Pik Fünf

Die Tram: zwei Wagen, gelbes Palindrom

Aus Bug und Heck und Kupplung, Heck und Bug

Die weißen Springer treiben Zug um Zug

Den schwarzen König zum Zaun mit Hochspannungsstrom

Sie heißen ihn in der Gosse niederknien

Und in den Randstein beißen - nicht weiter, Europa

Besingen wir dies. Wir sehen den netten Opa

Vom Reinigungsdienst auf dem Bürgersteig stehn

Schaufel und Besen zur Hand, zusammenzufegen

Was blieb. Die dunklen Flecken wäscht der Regen

Die Grenzen getilgt, nicht das Abgrenzsyndrom

Wer nicht weiß, wer er ist, muß fragen, nicht schlagen

Doch diese Erkenntnis lyrisch weiterzutragen

Ändert nichts. Und spricht das etwa dagegen?

Aporie, Aporue: Europa - Palindrom


Herz Sechs

Die Tram heißt hier noch immer "die Elektrische"

Ich bin seit fünf oder wer weiß wie viel Jahren

Auf die 59 schwer abgefahren

Ein Resteverwerter. Am Leben reizt das Eklektische

Das carpe diem, das Erinnerungsfragment

Am Sprachgebrauch und an den Häuserfassaden

Muscheln, barocke Voluten, wie von Meeresgestaden

Sedimentiert, gebannt, zitiert vom Zement

Die Straßenbahn geht in die Kurve: Mein Glück

Im Nu aufschießend vom Steiß ins Genick

Ist explodierendes Licht, das die Augen vergleißt

Gelackte Abziehbildchen vom Rand her versengt

Die Schneckenhäuser zu Teesieben zersprengt

Und Seligkeitsnarben in die Netzhaut schweißt



Karo Sieben

Fünf Jahre hier. Und trotzdem streif ich die Fremd-

Haut nicht ab, wird das Elmsfeuer weitergetragen

Ich brenne. Aus den Fingerspitzen schlagen

Bläuliche Flammen. Ich gehe im Nessushemd

Meiner Sprache umher. Dies ist die Stadt

Der Gasöfen und aprikosenen Nylons

In den Lyrik-Katakomben Babylons

Les ich Neonschriften von 10 000 Watt.

Steck den Kopf in die Röhre und inhaliere

Daraus ein blaubestirntes Firmament

Koch mir schwarzen Espresso und verliere

Mich an bonzengelbe Kunstseidenwäsche

Die knisternd an den Sternen Feuer fängt

Schick an Europa noch eine Depesche

Eh ich Nylon in Poren inkorporiere


Karo Acht

Ein Stoß, mein Blick gleitet aus, verliert den Reim

Im Sonett, das ich les, Kavanaghs, des irischen Barden

Die Trambahnschleuder preßt mich, Honigseim

An die Ränder des Texts, ans äußerste Innere verladen

So plötzlich stieß es nie mich um, trotz

Meiner Straßenbahn-Passagier-Erfahrung

Schwach wurden die Knie sonst nur ob des Spotts

Beim Abbruch vielversprechender Augenpaarung

Wie einst in der Kirmesraupe, wenn sie schnell

In den Rundkurs ging. Der Freundin spitzer Ell-

Bogen bohrte sich in meine Rippen

Schräg die draußen drehende Welt, und schief

Ragend am Rand Europas der Körpermief

Die Fliehkraft riß den Kuß von den trockenen Lippen


Karo Dame

Wäre Rauchen nur erlaubt, sie rauchten

Auch hier, die Frauen, na und? Sie lebten diese

Blaue Ferne, Zwischen-den-Kriegen-Krise

Der Ehe, vorübergehend aus und brauchten

Nicht diesen Ansitz- und Abweisblick. Den Beinen

Abgewinkelt in den Stehplatzraum

Gestellt und wohlbeschuht, ist Form und Traum

Gegeben, Aura, das Einmal-nur-Erscheinen

Einer Ferne, so nah sie auch sein mag.

Lippenstift wird Rouge genannt, und wörtlich

Was bei uns Rouge, "Gesichtsröter"

Sonst die Kleidung eher von Welt als örtlich

Sind die Schultern geweiht dem Fuchstöter

So zollt die Jägerin ihren Tribut der Jagd


Pik Zehn

Die Kurve am Königspaß-Platz: Gekrümmt

Das Fragezeichen inmitten der Hausfassaden

Silos, um 1900 auf Palazzo getrimmt

Die in lauen Renaissance-Lösungen baden

Und nur die Frage noch zusammenhält

Durchlöchert von Maschinengewehr-Garben

Der Roten, der Weißen, der Karnevalsgarden

Zu welchem Ende sie in die Welt gestellt

Lendenschurz mit Mottenfraß: Die Giganten

An den Seiten des Portals sind Machtsimulanten

Im Dienst des Bankomats. Der zahlt - und zählt

In der Kurve haut’s mir fast die Beine weg

Das jähe Glücksgefühl, das macht mich frech:

Ich weiß: Ich bin der Herrscher, der bestimmt

Was Europa als Erbe vom Osten nimmt



Kreuz Zehn

Bäume hält’s hier noch, die Umstandskrämer

Schon abgekrönt, ein Weichbild (Bild, das weicht

Dem Lichtraum der Verkehrsbedenkenträger)

Doch ein Starrsinn bis in die Wurzeln reicht

Das Wurzelwerk zitiert die Macht der Krone

Den Asphalt schrundet’s, reißt’s darüber auf

Des Silberbeschlags beraubt ist die Ikone

Sichtbar wird der Krakelüren-Verlauf

Aufbrechen im Zickzackbild des Blitzes

Masken, Pokerfaces, Steingesichter

Die Augen widerspiegeln zuckende Lichter

Des Spotts, des selbstgewissen Aberwitzes

Der dem Alltag den Lyrikvirus einscannt

Und dem Betrieb die Signaturen einbrennt


Joker

Im Hut des Bettlers häuft sich Alugeld

Die angegrauten Mitleidssilberlinge

Was tun damit? Polieren? Abgezählt

dem Bankomat, auf daß er es verschlinge

Und - schlecht gekaut! - sich dran verschlucke

Per Plastikkartenschlitz zum Futtern geben?

Auch eingewechselt wird’s nicht mehr, die Hucke

Läuft nicht voll davon, es reicht zum Leben

Nicht und nicht zum Sterben. So legt er aus

Auf’s Gleis der Tram den Forint und den Heller

Münz-Oblaten walzt das Rad daraus

Aluminium-Hostien, die tückisch glänzen

Dem Bettler taugen sie als kleine Teller

Um den Spatzen Krümel zu kredenzen


Herz Bube

Der Amokschreiber mit der Farbsprühdose

Pfuscht an die Häuserwände sein kryptisches tag

Den Ausstoß regeln Turgor und Osmose

Und wenn’s ihm kommt, dann feiert er Namenstag

Ich silberblicke ins weiße Licht: Die Retina

Behält den glühenden Funken, der ein sich schreibt

Mit dem Satz- Dies Buch gehört dem König. Bettina -

Der unlesbar im Gedächtnis bleibt

Der schlierenverstörte Blick sieht Schattendellen

Sich einvertiefen und Lichtbeulen schwellen

So wildbewegt waren die Fassaden nie

Flirrende Funken der auf uns stürzenden Neigungen

Schmolzen aus dem Senkblei erzwungener Steigungen

In Berg- und Talfahrt die eine Epiphanie


Kreuz As

Satire ist Gebet ohne Sinn, sagt Kavanagh -

Die Welt, die schon verkehrt, wird durch Verkehrung

Mitnichten richtig, sabotiert Belehrung

Durch Gleit-Gefühlsbeschichtete Bekenner

Du mußt ins Landesinnere gehen und klugen

Abstand halten vom Zentrum wie den Rändern

Ins Leere gehen zwischen Toccaten und Fugen

Den Luftspiegeln der Puszta, den Augenblendern

Wo das flirrende Licht in Windhosen quirlt

Und Staub als Hostie unterm Gaumen klebt

Gott aber nur über trockenen Tümpeln schwebt

Du verdurstet an Dir selbst? Zu wenig

Anzubieten Aas dem Rabenkönig?

Er hackt dich auf, ein Bündel Därme hebt

Er aus der Höhle: Knotenschrift, verzwirlt